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Frans Timmermans ist EU-Kommissar für Klimaschutz.

© Yves Herman/Reuters

EU-Kommissar Timmermans zum Klimaschutz: „Ohne Pestizidreduktion droht eine Nahrungskrise“

EU-Kommissar Frans Timmermans spricht im Interview über seine Pläne für eine nachhaltige Landwirtschaft und die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs.

Der Niederländer Frans Timmermans (61), ist seit 2019 EU-Kommissar für Klimaschutz. Zuvor war der Sozialdemokrat unter anderem Außenminister seines Heimatlandes.

Herr Timmermans, am Mittwoch haben Sie Ihren Entwurf der lang erwartete Pestizidverordnung vorgelegt. Machen Sie sich Sorgen, was aus Ihrer grünen Strategie wird?
Momentan befinden wir uns aufgrund des Krieges in der Ukraine in einer sehr schwierigen Situation. Der Krieg birgt enorme Risiken für die Ernährungssicherheit in Teilen Afrikas und des Nahen Ostens. Aber wenn wir wegen dieser Probleme die Farm-to-Fork-Strategie auszusetzen würden, könnte das langfristig die Gesundheit und Überlebensfähigkeit unseres Agrarsektors zerstören – und dass auf Grund sehr kurzfristiger Erwägungen.

Sie bleiben also dabei, dass nun der richtige Zeitpunkt ist, um verbindliche Ziele für eine Reduktion des Pestizid- und Düngemitteleinsatzes festzulegen und damit Landwirtinnen und Landwirte zu verpflichten, die Art und Weise, wie sie Landwirtschaft betreiben, zu ändern?
Wann werden die Betriebe dazu verpflichtet werden? Nicht morgen, nicht in diesem Jahr und nicht im nächsten Jahr. Unsere Perspektive ist 2030, 2040, 2050. Wenn wir diese Perspektive jetzt nicht verteidigen: Was wird künftig das Geschäftsmodell der Landwirtinnen und Landwirte sein? Können sie weiter so viel Pestizide einsetzen wie heute? Wir können es uns nicht leisten, diese Reform aufzuschieben.

Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um die wirklichen und dringenden Probleme der Landwirtschaft zu lösen. Aber die Maßnahmen, die wir ergreifen, dürfen unsere langfristige Vision eines gesunden und nachhaltigen Agrarsektors nicht zunichte machen. Wissen Sie, ich bin schon seit 30 Jahren dabei. Immer wenn wir etwas im landwirtschaftlichen Bereich vorschlagen, ist die Reaktion die gleiche: „Aufschieben, Ausnahmeregelung, nicht für uns, für jemand anderen“.

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Inzwischen befinden sich 70 Prozent der Böden in der EU in einem ungesunden Zustand, und 80 Prozent dieser Böden sind landwirtschaftliche Flächen oder Grünland. Das sind wissenschaftliche Fakten. Das ist eine größere Bedrohung für unsere langfristige Ernährungssicherheit als der Konflikt in der Ukraine, denn 75 Prozent der wichtigsten weltweit angebauten Lebensmittel sind von der Bestäubung durch Tiere abhängig. In Europa sind fünf Milliarden Euro pro Jahr direkt von der Bestäubung durch Tiere abhängig. Bitte lassen Sie uns die unmittelbare Krise trennen von der langfristigen Anpassung, die wir brauchen.

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In der Verordnung wird eine 50-prozentige Verringerung des Pestizideinsatzes in Europa bis 2030 vorgeschlagen und verbindliche nationale Reduktionsziele eingeführt. Warum sind die notwendig?
Nun, wir brauchen verbindliche Ziele, denn wir haben es schon einmal mit unverbindlichen Zielen versucht, und die haben uns nicht weitergebracht. Verbindliche Ziele geben der Industrie und dem Agrarsektor Sicherheit. Übrigens: Unsere Bürgerinnen und Bürger drängen uns dazu. Die Einsicht, dass der Ökozid eine unmittelbare Bedrohung für uns bedeutet, ist groß und wächst.

[Lesen Sie auch: Weniger Gift aufs Feld: EU-Kommission will Einsatz von Pestiziden halbieren (T+)]

Unter Verweis auf die „Kriegsnotstandskrise“ will die Agrarabteilung Ihrer Kommission in „ökologischen Schwerpunktgebieten“ mehr Landwirtschaft erlauben, grünes Licht für den Einsatz von Pestiziden geben und die Verpflichtung zur Fruchtfolge aufheben. Wie passt das zusammen mit der Vermeidung des Ökozids?
Jede Abweichung von der langfristigen Strategie sollte nur für unmittelbare Probleme und Notfälle gelten. Die richtige Behandlung erfolgt erst nach der richtigen Diagnose. Das Problem ist, dass man das Getreide und den Mais nicht von der Ukraine und Russland nach Afrika und in den Nahen Osten bringen kann. Darauf müssen wir müssen unsere Anstrengungen konzentrieren.

Der jüngste Plan sieht vor, Silos zu bauen, um den Transport in Gang zu bringen. Dafür müssen wir internationale Instrumente nutzen, insbesondere das Welternährungsprogramm, um genügend Geld und Projekte für Afrika zu bekommen. Das ist unsere unmittelbare Priorität. Für mich macht es keinen Sinn, deswegen Schutzgebiete zu nutzen, um noch mehr Rohstoffe zu produzieren. Eine andere Auswirkung dieser Krise und der unglaublichen Preise für Düngemittel ist übrigens, dass die Biolandwirtschaft profitabler geworden ist, weil sie kein russisches Gas zur Herstellung von Düngemitteln benötigt.

Die EU-Kommission will verbindliche Ziele für eine Verringerung des Pestizid- und Düngemitteleinsatzes festlegen.
Die EU-Kommission will verbindliche Ziele für eine Verringerung des Pestizid- und Düngemitteleinsatzes festlegen.

© dpa

Sie sehen sich einem starken Druck seitens der Agrarindustrie ausgesetzt. Wie gehen Sie mit diesen Bedenken um?
Die zentrale Frage ist, wie kann es gelingen, die gesamte Gesellschaft in diese Debatte einzubeziehen. Wenn wir die Diskussion auf die Gruppe derjenigen beschränken, die ganz klare Interessen haben, dann sieht die Debatte natürlich anders aus. Wir stehen kurz vor einer Veränderung. In den letzten 30 bis 40 Jahren war die Gemeinsame Agrarpolitik etwas für Eingeweihte. Und jetzt sehen Sie, dass unsere Bürgerinnen und Bürger aufwachen, so wie sie bei der Klimakrise aufgewacht sind.

Wir müssen der Agrargemeinschaft beweisen, dass es für sie hier einen Gewinn gibt. Die jungen Landwirtinnen und Landwirte verstehen es, sie verstehen es wirklich. Und sie wollen ein Teil davon sein. Die Agrargemeinschaft ist in dieser Frage kein Monolith. Aber natürlich wird der agroindustrielle Komplex mobilisiert, und es kommt zu einer sehr, sehr konfrontativen Debatte, wie ich sie ständig mit ihnen führe.

Ich habe nie jemanden von Copa-Cogeca (der Agrarlobby in Brüssel, Anm. d. Red.) persönlich angegriffen, aber die Präsidentin von Copa-Cogeca macht es sich zur Aufgabe, mich ständig persönlich anzugreifen. Ich frage mich, warum sie mir gegenüber so aggressiv ist. Liegt es daran, dass ich Recht habe? Könnte das der Grund sein?

Die EU-Kommission gibt nur sehr wenig Geld für Programme aus, die die Veränderung des traditionellen Landwirtschaftsmodells unterstützen. Warum ist das so?
Das ist so, als würde man versuchen, den größten Öltanker der Welt dazu zu bringen, seinen Kurs zu ändern. Das braucht Zeit. Das Einzige, was ich sofort tun muss, ist zu verhindern, dass wir wieder auf den alten Kurs zurückkehren, auch wenn es jetzt Korrekturen gibt. Der Punkt, den Sie ansprechen, ist äußerst berechtigt. Wenn man sich den Gesamthaushalt der Gemeinsamen Agrarpolitik ansieht und sich dann anschaut, was für die Entwicklung in die richtige Richtung ausgegeben wird, dann ist das ein sehr kleiner Teil des Gesamthaushalts. Wir müssen das ändern.

Aber ein Kurswechsel hat unmittelbare Auswirkungen auf sehr viele Landwirtschaftsbetriebe in der Europäischen Union. Man muss sie mit ins Boot holen. Die Interessengruppen lassen sie glauben, dass das, was wir tun, die Landwirtinnen und Landwirte ihren Lebensunterhalt kosten wird. Ich hingegen bin zutiefst davon überzeugt, dass, wenn wir nicht tun, was wir vorschlagen, die Probleme mit der biologischen Vielfalt in 10 bis 15 Jahren so gravierend sein werden, dass die Landwirtschaft in Europa nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Dann werden wir wirklich eine Nahrungsmittelkrise in Europa haben.

Das Gespräch führten Eurydice Bersi und Maria Maggiore von Investigate Europe. Das Team von Investigativjournalisten aus elf Staaten recherchiert gemeinsam Themen von europäischer Bedeutung. Die Recherche von Investigate Europe, „Stiller Tod: Europas Pestizidproblem und das Artensterben“,  wird am Wochenende vom Tagesspiegel mit Medienpartnern in ganz Europa veröffentlicht.

Eurydice Bersi, Maria Maggiore

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